Heilbronner Stimme – Interview und Artikel

3. Dezember 2019 - von Heilbronner Stimme, Originaltext des Artikels


Wie das Internet unsere Sexualität beeinflusst


DIGITALISIERUNG Pornografische Inhalte überfluten das Netz, treffen auf Kinder und Teenager - Verroht unser Blick?

Von unserem Redaktionsmitglied Bigna Fink

Im Netz steckt eine unfassbare Menge an sexuellen Inhalten. Was macht dieser dominante Aspekt der Digitalisierung, die Pornografie mit unserer Sexualität? Die Frage beschäftigt in der Region viele, etwa Therapeuten, Polizeibeamte, Pädagogen. Während reale Sexualkontakte abnehmen, steigt der Konsum an Pornos, beobachtet Anja Krüger, Heilpraktikerin mit dem Schwerpunkt Sexualität in Leingarten. Der Grund für die zunehmende Lustlosigkeit sei einfach: die Weiterentwicklung der Technik. Und: "Mit dem Smartphone haben die Pornos die Handys der Jugendlichen erreicht."


Nacktbilder Benötigte es in den 90ern den Schritt in die Videothek mit Alterskontrolle, sind wir heute einen Fingertipp von Millionen kostenloser Pornos entfernt. Frei zugänglich, selbst für die Kleinsten. Verroht der Blick der Jugendlichen auf die körperliche Liebe? Die Frage wird seid Beginn der Digitalisierung sorgenvoll und hilflos zugleich diskutiert. In Kursen der Beratungsstelle Pro Familia geben nach Angaben des Heilbronner Sexualpädagogen Andreas Baur die Hälfte der Mädchen an, ungewollt Nacktfotos erhalten zu haben. Monika Scherrer, Biologielehrerin im Heilbronner Mönchsee- Gymnasium, beobachtet in Ihrem Sexualkunde-Unterricht jedoch wenig Veränderung zu früher. "Tendenziell gehen heute mehr Schüler offener mit dem Thema Sexualität um", hat die 38-Jährige den Eindruck. Das Bewusstsein, dass es vielfältige Formen von Sexualität gibt, sei größer geworden. Kristina, eine 18-jährige Schülerin in Heilbronn, erfährt in dem sozialen Netzwerk Instagram eine zunehmende Belästigung durch Werbung von Pornoseiten. Auch erhalten sie und Freundinnen öfters intime Bilder von Fremden. Dazu schreiben Absender Aufforderungen wie: "Ich habe was von mir geschickt, jetzt schick du auch was von dir." Kristina bleibt aber gelassen: "Ich denke, dass solche Fotos die meisten nicht interessieren." Natürlich, solange davon Menschen nicht persönlich betroffen seien. Sie findet, dass Jugendliche sehr wohl zwischen Pornografie und realem Sex unterscheiden können.


Aufklärung Dieter Ackermann, Leiter im Haus des Jugendrechts Heilbronn, stellt fest: Das Alter von Betroffenen durch unfreiwilliges Sexting - das Versenden von anzüglichen Bildern via Handy - sinkt deutlich. Früher kümmerten sich der Kriminalhauptkommissar und sein Team um Fälle von jungen Frauen um die 16, die Sexting-Erpressungen erlebten. "Jetzt geht es verstärkt um elfjährige Mädchen, deren Eltern Anzeige erstatten." Sexting sollte man aber nicht dramatisieren, findet Ackermann: Solange es nicht missbraucht werde, sei der private Austausch selbst produzierter erotischer Fotos eigentlich nur eines: eine veränderte Form der Sexualität mit Mitteln, die es vor zehn Jahren nicht gab. Aufgrund der Entwicklungen sollten Eltern früh mit Kindern über Sex sprechen, rät der Sexualpädagoge Andreas Baur: "Junge Menschen brauchen ein fundiertes Wissen, um Internetinhalte einordnen und sich schützen zu können." Denn täglich werden Tausende neue pornografische Inhalte ins Netz geladen. Jugendschutzfilter sind sinnvoll, findet Baur, haben aber laut Dieter Ackermann so gut wie keine Chance. Jakob Pastötter, Sexualforscher und Therapeut mit einer Praxis bei München, sagt, Pornografie sei ohne Frage treibende Kraft der Internetentwicklung. "Als Psychologe würde es mich freuen, wenn die Leute viel Sex hätten. In der Therapie erfahren wir aber oft, dass die Sprachlosigkeit in der Sexualität enorm ist." Auch aus der representativen Studie Freizeit-Monitor 2019 geht hervor: Die Deutschen haben offenbar immer weniger Sex. Ein Grund dafür ist für die Macher der Umfrage das Handy, das unsere Freizeitaktivitäten mehr und mehr dominiere.


Zwischen Sucht und Freiheit Pornokonsum kann schädlich sein, Experten sehen darin aber auch Positives


SEXUALTHERAPIE In Ihrer Praxis in Leingarten behandelt Anja Krüger Patienten mit einem bestimmten Problem: Pornosucht. Aus Studien weiß die Heilpraktikerin: "In den letzten 15 Jahren ist die Zahl der Pornosüchtigen stark angestiegen." Für sie bestätigt sich dieser Befund durch die erhöhte Nachfrage, hauptsächlich von Männern, nach einem Therapieplatz. Doch wann liegt eine Sucht nach diesen Filmchen vor? "Wenn ich zwanghaft extrem viel konsumiere und mich danach schlecht fühle."


Wirlichkeitsflucht Der Sexualforscher Jakob Pastötter ist vorsichtig mit dem Begriff Pornosucht, bestreitet aber nicht, dass es so etwas gibt: "Im Prinzip handelt es sich bei Pornografie um eine Form des Eskapismus, der Flucht vor der Wirklichkeit", beschreibt er das Phänomen. Er nennt das Angebot an Sexclips im Internet kritisch "perfektes Konsumgut". Das Leben biete relativ wenig, was Sexualität angeht. "Die Fülle dessen, was uns im realen Leben nicht anmacht, ist ja groß: Das kann ein falscher Blick sein, die falsche Handlung - bei der Pornografie klicke ich einfach weiter." Das Gefährliche ist laut Pastötter, wenn wir uns an den pornografischen Blick auf Sexualität gewöhnen. "Wir gewöhnen uns dann an, fast ausschließlich durch das Sehen erregt zu werden, nicht durch das Eingehen auf einen Menschen." Die Auswirkung auf die reale Lust sieht Pastötter als Hauptproblem im starken Konsum von Pornos. Ähnlich wie der Sexualwissenschaftler spricht Anja Krüger die chemischen Veränderungen durch exzessiven Pornokonsum an: "Der Körper reagiert beim Sex ohne Partner anders. Das Bindungshormon Oxytocin wird nicht ausgeschüttet, und wir verlernen, eine Beziehung aufzubauen." Die sexuelle Welt eines Pornosüchtigen sei eine sehr künstliche: "Immer wieder neue Frauen, neue Dinge - dafür ist unser Gehirn nicht gemacht." Als Schutzmechanismus schüttet der Körper weniger Dopamin, Glückshormone aus. "Und dann ist mein ganzes Leben grau." Der Süchtige komme in einen Teufelskreis, brauche immer heftigere Reize.


Positives Die Leingartenerin differenziert jedoch: Nicht jeder Mensch sei suchtanfällig. "Und Pornos können auch positive Anregungen, eine Bereicherung für die Partnerschaft sein." Der Sexologe Jakob Pastötter sieht die Sache ebenfalls nicht nur negativ. "Pornografie hat viele Funktionen: etwa eine Identitätsfunktion. Pornografie regt mich an, mich klarer zu definieren und mir vorzustellen, wer ich eigentlich sexuell bin." Außerdem ermögliche das Netz unserer Sexualität auch viel Positives, bestätigen beide Experten, etwa die Online-Partnersuche. Menschen könnten online viel freier als früher über ihre sexuellen Neigungen reden, sagt Anja Krüger. "Auf welche Weise wir das Internet nutzen, das ist immer entscheidend."